Das Unsichtbare

Wie oft im Leben beschweren wir uns über die Dinge, die wir nicht haben anstatt uns über die Dinge zu freuen, die wir haben? Oft schätzen wir etwas erst, wenn wir es verloren haben ohne es geschätzt zu haben, solange wir es noch hatten. Die folgende Geschichte aus Afrika bringt diese Thema wunderschön auf den Punkt:

Es war einmal ein Mann in Afrika, der hatte eine wunderschöne Rinderherde. Die Rinder waren schwarzweiß gepunktet, und das war etwas Besonderes. Der Mann liebte seine Kühe und gab sich sehr viel Mühe, immer einen guten Weideplatz zu suchen. Er brachte die Kühe jeden Tag auf einen anderen Weideplatz, an dem sie saftiges Gras zum Fressen fanden und wo sie nicht von wilden Tieren erschreckt werden konnten.

Am Abend brachte er sie in den Stall zurück und freute sich daran, wie sie zufrieden dalagen und wiederkäuten. Er dachte: Wie schön, morgen früh werde ich eine Menge gute Milch von meinen Kühen bekommen.

Morgens aber, als er zu seinen Kühen kam und sie melken wollte, erschrak er: Die Euter waren schlaff und leer; er bekam keine Milch und grübelte, woran das liegen könne. Ob ich nun gestern doch nicht den richtigen Weideplatz gefunden habe, dachte er bei sich und wollte für heute einen besseren Weideplatz für seine Tiere suchen. Er fand auch tatsächlich eine schöne Weide für seine Kühe, und sie fraßen sich satt. Am Abend, als er die Kühe nach Hause trieb, war er mit sich zufrieden und dachte: Morgen früh werde ich bestimmt wieder soviel Milch haben wie früher! Aber am nächsten Morgen waren die Euter wieder schlaff und leer.

Noch einmal wechselte er den Weideplatz und fand eine so schöne, saftige Stelle, dass er ganz froh wurde. Am nächsten Morgen, dachte er bei sich, werden die Euter meiner Kühe wieder voll und prall sein. Es wird sicher viel Milch geben. Doch auch am dritten Morgen waren die Euter schlaff und leer.

Da beschloss er, seine Kühe von nun an nicht mehr aus den Augen zu lassen. Ja, er wollte sogar nachts bei ihnen schlafen. Er versteckte sich also im Stall um herauszufinden, wo die Milch blieb.
Um Mitternacht sah er, wie eine Strickleiter von den Sternen herabkam, und an ihr entlang schwebten ein paar junge Frauen aus dem Himmel herunter. Er sah, wie sie fröhlich waren und einander zulachten und dann in den Stall kamen und seine Kühe molken.

Da sprang er aus seinem Versteck, um die jungen Frauen zu fangen. Aber sie waren schneller und flohen zum Himmel hinauf. Eine von ihnen, die Allerschönste, konnte er gerade noch festhalten. Er behielt sie bei sich und machte sie zu seiner Frau. Von der Zeit an hatte er keinen Ärger mehr mit seinen Kühen. Seine junge Frau ging auf die Felder und besorgte den Haushalt; er selbst kümmerte sich auch weiterhin um seine Kühe. So lebten sie glücklich und zufrieden und wurden sehr wohlhabend.

Eines aber ärgerte ihn: Als er seine Frau gefangen hatte, trug sie einen Korb bei sich und hatte ihn gebeten, unter keinen Umständen in den Korb hineinzuschauen. Denn wenn er das tun würde, sagte sie, würde ihnen beiden großes Unglück zustoßen. Und er hatte ihr versprochen, nie in den Korb zu sehen.

Nach einigen Monaten war das Versprechen vergessen. Als er einmal allein im Haus war, ging er in das Zimmer seiner Frau hob den Deckel, sah in den Korb und brach in lautes Gelächter aus. Da kam seine Frau vom Feld und sie merkte sofort, was geschehen war. Da wurde sie sehr traurig und sagte zu ihm: „Du hast in den Korb gesehen.“
„Na und? Warum sollte ich nicht! Warum machst du so ein Geheimnis um den Korb, es ist doch gar nichts drin!“

Während er noch sprach, wandte sie sich ab von ihm, ging dem Sonnenuntergang entgegen und verschwand vor seinen Augen. Seither hat sie kein Mensch mehr gesehen.

Kannst du dir denken, warum sie wegging? Nicht, weil er sein Versprechen gebrochen hatte, sondern weil er beim Hineinsehen in den Korb nichts gesehen hatte. Sie ging, weil der Korb in Wirklichkeit nicht leer war, sondern weil ihr Mann all die schönen Dinge, die sie vom Himmel mitgebracht hatte, nicht sehen konnte und auch noch darüber gelacht hatte.


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