Die Wahrheit gilt nichts

Diese Geschichte von Heinrich Daniel Zschokke möchte ich euch nicht vorenthalten. Er war ein Schweizer Erzähler und Herausgeber der Wochenschrift „Der Schweizerbote“. Gelebt hat er von 1771 bis 1848

Kunz hatte sich steif und fest vorgenommen, mit dem neuen Jahr ein besserer Mensch zu werden und nichts als die Wahrheit zu sagen; denn vorher war er ein Lügner und Windbeutel und hatte viel Verdruss davon gehabt. Er wollte mit dem Wahrheit reden gleich am ersten Tag des Jahres den Anfang machen und keinem etwas wünschen, was ihm nicht nützlich wäre.
Er kam zu seinem Nachbarn, der ein Kaufmann war. „Herr Nachbar, ich wünsche Euch“, sagte er zu ihm, „gute Ware und ein enges Gewissen, dass Ihr niemanden übervorteilt und hintergeht, so werdet Ihr vor Gott und den Menschen große Ehre haben.“
„Was?“ schrie der Kaufmann wütend und warf den Kunz zur Tür hinaus. „Hältst Du mich für einen Betrüger?“
Kunz ging zu seinem Gevatter, dem Schneider, und wollte ihm seine Not klagen. Vorher aber wünschte er ihm ein gutes neues Jahr und sprach: „Gevatter, ich wünsche Euch eine ehrliche Schere, die niemals zu viel Tuch und Leinwand von Euren Kunden nimmt; ich wünsche Euch ein zufriedenes Herz mit recht verdienter Bezahlung, dass nicht an jedem neuen Rock eine Elle Zeug profitieren will, so werden Eure Kunden…“
Der Schneider ließ ihn nicht ausreden, sondern schrie: „Gevatter, Ihr seid ein grober Tölpel, geht mir aus den Augen!“
Kunz ging und begegnete unten im Hause einem Herrn von der Regierung, seinem hohen Gönner. Er wünschte ihm mit all seiner Ehrfurcht ein glückliches Neujahr und sprach: „Ich wünsche Ihnen vom Himmel Weisheit und Erleuchtung; keine Vorliebe für die Herren Vettern bei der Besetzung der Ämter; Unparteilichkeit, wenn Sie etwas entscheiden; wünsche, dass Sie nichts verfügen, was dem Vaterlande nachteilig ist, dass Sie vielmehr, und wäre es Ihr eigener Schade, tun, was recht ist, dass Sie gegen Ihre Mitbürger leutselig bleiben und nicht stolz tun; dass Sie die Armen und die Schulen unterstützen und Tag und Nacht darauf denken mögen, was unserem Lande zum Besten…“
„Ich glaube, der Kerl ist ein Narr!“ sagte der Herr von der Regierung und ließ den Kunz mit seinem Neujahrswunsche stehen.
Kunz schüttelte den Kopf. Indem kam ein junges Frauenzimmer, das er kannte, aus der Stubentür. Er grüßte es und sprach: „Jungfer, ich wünsch Euch in diesem Jahr viel Vergnügen in der Kirche, im Keller und in der Haushaltung; viel altes Geld, wozu besonders Sparsamkeit verhilft, und wenig neue Moden; wenig Anbeter und Bewunderer, aber einen ehrlichen, fleißigen, liebevollen Bräutigam, den Ihr glücklicher machen könnet als unsere meisten Putzjungfern, die auf den Tanzsälen zur Schau gehen und…“ „Ich glaube, Ihr habt schon am Neujahrsmorgen einen Schwips!“ sagte das junge Frauenzimmer und hüpfte davon.
Kunz ließ sie gehen. Er kam an des Pfarrers Haus vorbei. Der Pfarrer schaute eben zum Fenster hinaus, nickte ihm zu und sprach: „Kunz, wünschest Du mir nichts zum Neujahr?“ Kunz fing sogleich mit entblößtem Haupt an zu gratulieren: „Ich wünsche Euch nur zwei Dinge“, sprach er, „unaufhörliche Lust, Gottes Wort und Werk zu studieren und dem Volke die allerbeste Art vorzutragen, dass man nicht müde werden kann, es zu hören; zweitens, dass Ihr das Wort, das Ihr predigt, zuerst ausübet und Ihr das Beispiel des besten Christen gebet – dann wird…“
Der Pfarrer machte das Fenster zu, und Kunz setzte verstummt den Hut wieder auf und ging seines Weges.


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